Joseph Conrads „Herz der Finsternis“, veröffentlicht im Jahr 1899, ist weit mehr als nur ein Abenteuerroman. Es ist ein Werk, das uns in die Tiefen des afrikanischen Kontinents und gleichzeitig in die Abgründe der menschlichen Psyche führt. Der Roman, der weder eine reine Novelle noch ein Roman im klassischen Sinne ist, wird heute als eines der bedeutendsten Prosawerke der englischen Sprache angesehen. Dieser Essay wird die Themen und die Symbolik von Conrads Werk untersuchen und dabei aufzeigen, warum es auch heute noch, mehr als ein Jahrhundert nach seiner Entstehung, von universeller Bedeutung ist.
Die Reise in die Finsternis
Im Mittelpunkt der Erzählung steht Charles Marlow, ein erfahrener Seemann, der als Kapitän eines Flussdampfers im Dienste einer belgischen Handelsgesellschaft den Kongo hinauffährt. Marlow begibt sich auf die Suche nach dem mysteriösen Kurtz, einem Handelsagenten, der durch seine Grausamkeit und seinen Erfolg im Elfenbeinhandel bekannt ist. Die Reise wird zur Metapher für eine Reise in das Innere des Menschen, in das Herz der Finsternis, wie der Titel schon sagt.
Die „Finsternis“ im Titel des Romans hat viele Bedeutungen: moralische Korruption, das Unbekannte, Tod, Unwissenheit und das Irrationale, das sich dem menschlichen Verständnis entzieht. Diese Vieldeutigkeit zieht sich durch das gesamte Werk und spiegelt sich in den undurchdringlichen Landschaften des Kongo wider. Die Dunkelheit des Dschungels wird zum Spiegelbild der Dunkelheit, die im Inneren der Figuren lauert, und symbolisiert den Verlust von Moral und Menschlichkeit im Angesicht von Gier und Machthunger.
Kritik am Kolonialismus
Ein zentrales Thema des Romans ist die Kritik am europäischen Kolonialismus. Conrad, der selbst Erfahrungen in der Kolonialzeit sammelte, entlarvt die Heuchelei und Brutalität des Systems, das im Namen von Zivilisation und Fortschritt Unterdrückung und Ausbeutung betreibt.
Die europäischen Kolonialherren werden als ineffektiv, gierig und von Selbstüberschätzung zerfressen dargestellt . Sie sind besessen vom vermeintlichen Auftrag, die vermeintlich wilden Eingeborenen zu zivilisieren, blenden dabei jedoch die eigene Barbarei komplett aus.
Die Kolonialisierung des Kongo durch den belgischen König Leopold II. dient im Roman als erschreckendes Beispiel für die Grausamkeiten, die im Namen des Fortschritts verübt wurden. Unter dem Vorwand, Frieden und Freiheit zu bringen, errichtete Leopold II. ein System der Ausbeutung, das Millionen von Afrikanern das Leben kostete.
Die Dunkelheit im Menschen
Kurtz, der charismatische Handelsagent, der tief im Dschungel residiert, verkörpert die dunkle Seite der menschlichen Natur. Er ist besessen von Macht und Elfenbein und schreckt vor keiner Grausamkeit zurück, um seine Ziele zu erreichen. Kurtz, der einst als Idealist nach Afrika kam, ist dem Wahnsinn verfallen und hat sich seinen dunkelsten Instinkten hingegeben.
Seine Figur zeigt auf erschreckende Weise, wozu der Mensch fähig ist, wenn ihm absolute Macht gegeben wird und moralische Grenzen verschwimmen. Kurtz wird zum Sinnbild für die potenzielle Bestialität, die in jedem Menschen schlummert und die durch äußere Umstände geweckt werden kann.
Die Suche nach Identität
Marlows Reise ist nicht nur eine Reise in die äußere Finsternis des Kongo, sondern auch eine Reise in sein eigenes Inneres. Er wird mit seinen eigenen moralischen Grenzen konfrontiert und muss sich mit der Erkenntnis auseinandersetzen, dass auch in ihm die Dunkelheit lauert. Seine Konfrontation mit Kurtz wird zum Schlüsselerlebnis, das ihn zwingt, seine eigenen Werte und Überzeugungen zu hinterfragen .
Der Roman stellt die Frage nach der menschlichen Natur und der Bedeutung von Moral in einer Welt, in der die Grenzen zwischen Gut und Böse, Zivilisation und Barbarei zu verschwimmen drohen.
Universelle Bedeutung
Obwohl „Herz der Finsternis“ vor dem Hintergrund der europäischen Kolonialisierung Afrikas entstand, ist der Roman von zeitloser und universeller Bedeutung. Die Themen, die Conrad aufgreift – die Gefahren von Machtmissbrauch, die Brüchigkeit der Zivilisation und die Auseinandersetzung mit der eigenen Dunkelheit – sind heute aktueller denn je.
Der Roman kann auch als Kommentar zu anderen Formen von Unterdrückung und Ausbeutung gelesen werden, die es in der menschlichen Geschichte immer wieder gab und gibt. Die Reise in die Finsternis wird zur Metapher für die Reise in die Abgründe des menschlichen Herzens, die in jedem von uns lauern.
„Das Herz der Finsternis“ trifft Vietnam: Die Vorlage von „Apocalypse Now“
Der Roman hatte auch maßgeblichen Einfluss auf die Filmgeschichte genommen. Francis Ford Coppolas Meisterwerk „Apocalypse Now“ aus dem Jahr 1979 basiert auf Conrads Werk und überträgt die Geschichte in den Kontext des Vietnamkriegs. Coppola erkannte die zeitlose Qualität von Conrads Themen und sah in der Geschichte die Möglichkeit, die Schrecken des Krieges und die Abgründe der menschlichen Psyche auf eindrückliche Weise zu veranschaulichen.
Die Reise den Kongo hinauf wird in „Apocalypse Now“ zur Reise auf dem Fluss Nung, der die Protagonisten immer tiefer in das vom Krieg zerrüttete Kambodscha führt. Der mysteriöse und grausame Kurtz, der in Conrads Roman im tiefsten Afrika residiert, wird in Coppolas Film zu einem wahnsinnigen Colonel, der jenseits der kambodschanischen Grenze sein eigenes Schreckensregime errichtet.
Obwohl „Apocalypse Now“ in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort spielt, greift Coppolas Film die zentralen Themen von Conrads „Herz der Finsternis“ auf und transformiert sie in einen neuen Kontext. Die Gefahren von Machtmissbrauch werden sowohl in Kurtz, dem Elfenbein-Händler aus Conrads Roman, als auch in Colonel Kurtz, dem charismatischen und wahnsinnigen Anführer aus Coppolas Film, deutlich. Beide Figuren zeigen eindringlich, wie Macht korrumpiert und zu Grausamkeit und Wahnsinn führen kann.
Darüber hinaus demonstrieren beide Werke auf erschütternde Weise die Brüchigkeit der Zivilisation. Sie zeigen, wie schnell der Mensch in die Barbarei zurückfallen kann, wenn die äußeren Zwänge wegfallen. Die Reise in die Finsternis des Kongo bei Conrad und die Reise in den Dschungel Vietnams bei Coppola werden so zu einer Metapher für die Reise in die Abgründe der menschlichen Psyche. Beide Protagonisten, Marlow und Captain Willard, konfrontieren sich mit ihren eigenen Dämonen und erkennen die Dunkelheit, die in jedem Menschen lauert.
„Apocalypse Now“ ist nicht nur eine werkgetreue Verfilmung von „Herz der Finsternis“, sondern eine eigenständige künstlerische Leistung, die Conrads Themen aufgreift und in einem neuen Kontext interpretiert. Der Film ist ein erschütterndes Antikriegsdrama und gleichzeitig eine tiefgründige Reflexion über die menschliche Natur, die durch die Wucht der Bilder und die Intensität der Geschichte bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren hat.
Fazit
Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ ist ein vielschichtiges und verstörendes Meisterwerk, das uns auch heute noch tief im Inneren berührt. Der Roman zwingt uns, uns mit den dunkelsten Seiten der menschlichen Natur auseinanderzusetzen und hinterfragt die vermeintlichen Gewissheiten von Zivilisation und Fortschritt.
Die Reise in das Herz der Finsternis ist eine Reise, die uns alle angeht und die uns lehrt, dass die wahre Dunkelheit nicht in der Fremde, sondern in uns selbst zu finden ist.
Joseph Conrad
Das Herz der Finsternis
Roman (1926). E-Book. Erste Auflage 2020.
Erschienen am 12. Mai 2020