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Ein Interview mit Charles Marlow: Die Finsternis im Herzen der Moderne

Der schwere Geruch von Malz und Hopfen liegt in der Luft, vermischt mit dem beißenden Geruch von Zigarettenrauch, der sich hartnäckig in den schweren Vorhängen der kleinen Stuttgarter Gastwirtschaft ‚Zum Goldenen Stern‘ festgesetzt hat. Es ist ein Ort, an dem die Zeit stillzustehen scheint, während draußen das geschäftige Treiben der Schwabenmetropole seinen Lauf nimmt. Nur wenige Schritte von der Kulturinsel entfernt, bietet diese Gastwirtschaft Künstlern, Schriftstellern und Freigeistern eine Zuflucht vor dem Alltag, einen Ort, an dem Ideen ausgetauscht und Geschichten geteilt werden, wie die Perlen auf einer Kette, jede einzigartig und doch untrennbar mit den anderen verbunden.

An diesem Abend jedoch liegt eine ganz besondere Spannung in der Luft, ein Gefühl der Erwartung, das sich kaum in Worte fassen lässt. Denn zwischen den abgenutzten Holztischen und den mit nostalgischen Fotos geschmückten Wänden hat sich ein Mann niedergelassen, dessen bloße Präsenz eine Aura von Abenteuer und Geheimnis mit sich bringt. Es ist ein Mann, dessen Gesicht von den Strapazen der Welt gezeichnet ist, dessen Augen Geschichten erzählen, die so unglaublich und doch so real scheinen, wie ein Traum, der einen auch nach dem Erwachen noch lange fesselt.

Charles Marlow, der Seemann, der Abenteurer, der Mann, dessen Stimme durch die Seiten von Joseph Conrads »Herz der Finsternis« widerhallt, ist nach Stuttgart gekommen. Nicht, um in den Annalen der Geschichte zu blättern, sondern um in den Tiefen der menschlichen Seele zu lesen, inmitten des Mikrokosmos einer Stuttgarter Gastwirtschaft, die an diesem Abend zu einer Bühne für die großen Fragen des Lebens wird.

Denn Marlows Geschichten, so exotisch die Schauplätze auch sein mögen, handeln von universellen Themen, die uns alle betreffen: die Suche nach dem Sinn des Lebens, die Konfrontation mit dem Bösen in der Welt und in uns selbst, die Schwierigkeit, in einer Welt voller Grauzonen moralisch zu handeln. Und so nimmt er an diesem Abend Platz, umgeben vom Gemurmel der Gespräche und dem Klirren der Biergläser, bereit, seine Erfahrungen zu teilen, den Schleier zwischen Fiktion und Realität zu lüften und seine Zuhörer mit auf eine Reise in die tiefsten Winkel der menschlichen Existenz zu nehmen.

Herr Marlow, Ihr Erlebnisbericht aus dem Herzen Afrikas hat die Leser seit jeher in den Bann gezogen. Was, denken Sie, macht die Geschichte auch heute noch, in einer Zeit globaler Vernetzung und digitaler Reizüberflutung, so aktuell?

Marlow: Sehen Sie, die Welt mag sich verändert haben, seit ich den Kongo befuhr, aber der Mensch, der Mensch ist gleich geblieben. Die Grundfesten der menschlichen Natur, die Gier, die Machtgier, die Fähigkeit zum Bösen, all das ist zeitlos. Wir mögen heute keine Expeditionen mehr in unerforschte Länder unternehmen, aber die Reise in unser Inneres, die Reise ins Herz der Finsternis, die bleibt aktuell.

Die Globalisierung, von der Sie sprechen, erinnert mich an die Handelsgesellschaften meiner Zeit – sie alle waren von dem Wunsch getrieben, zu expandieren, zu erobern, zu profitieren. Der Drang nach Profitmaximierung, nach grenzenlosem Wachstum, erscheint mir heute wie damals als eine Form der Blindheit.

Und die digitale Reizüberflutung, von der Sie sprechen… ist das nicht auch eine Art Flucht vor der Wirklichkeit? Eine Möglichkeit, sich von den unangenehmen Wahrheiten unserer Zeit abzulenken? Wir leben in einer Welt des Scheins, genau wie die gepflegten Herren in ihren dunklen Anzügen in Brüssel, die sich für Zivilisatoren hielten, während sie im Kongo unermessliches Leid verursachten.

Karte zeigt den Freistaat Kongo im Jahr 1890. Gemeinfrei.

Sie beschreiben Ihre Reise flussaufwärts als eine Reise in die Vergangenheit, zurück zu den Ursprüngen der Menschheit. Inwieweit sehen Sie die sogenannte „zivilisierte Welt“ von dieser Vergangenheit noch immer eingeholt?

Marlow: Die Reise flussaufwärts, das war nicht nur eine Reise durch den Dschungel, sondern auch eine Reise in die Untiefen der menschlichen Seele, zurück zu einem Punkt, an dem Zivilisation und Barbarei verschwimmen. Und ja, ich fürchte, die sogenannte „zivilisierte Welt“ ist von dieser Vergangenheit noch immer eingeholt. Schauen Sie sich um! Kriege, Genozid, Umweltzerstörung – ist das nicht Barbarei im Gewand der Moderne?

Wir täuschen uns gerne über unsere eigene Natur hinweg, bauen Fassaden auf, um das Dunkle in uns zu verbergen. Aber die Geschichte lehrt uns immer wieder, dass die Grenze zwischen Zivilisation und Barbarei hauchdünn ist. Manchmal reicht ein Stoß, ein unerwarteter Schub, und die Maske der Zivilisation fällt, und die primitiven Instinkte brechen sich Bahn.

Kurtz, der brilliante Elfenbein-Händler, verfällt im Dschungel dem Sog der Macht und Grausamkeit. Was sagt uns sein Schicksal über die Grenzen der menschlichen Moral, gerade auch im Angesicht von Gier und Machtstreben, die wir heute überall auf der Welt erleben?

Marlow: Kurtz… ein tragischer Fall, ein Mann von außergewöhnlichen Fähigkeiten, der im Dschungel seinen moralischen Kompass verlor. Sein Schicksal ist eine Warnung an uns alle, ein Mahnmal dafür, wie leicht Macht korrumpiert und wie schnell Gier uns zu Monstern machen kann.

Kurtz war kein Bösewicht im klassischen Sinne. Er begann mit edlen Zielen, wollte Afrika „zivilisieren“, die „Last des weißen Mannes“ tragen. Aber der Dschungel, die Macht, die er dort anhäufte, all das veränderte ihn. Er wurde zu dem, was er bekämpfen wollte – zu einem barbarischen Tyrannen.

Und das Erschreckende ist, dass wir alle das Potenzial für Kurtz‘ Verfall in uns tragen. Gier und Machtstreben sind universelle menschliche Schwächen. Wir alle müssen achtsam sein, dass wir ihnen nicht erliegen, besonders in einer Welt, in der diese Kräfte so ungezügelt wirken wie heute.

Das Erbe des Kolonialismus

Herr Marlow, Sie haben selbst miterlebt, wie die Kolonialmächte Afrika ausgebeutet und die Menschen dort ihrer Würde beraubt haben. Welche Parallelen sehen Sie zwischen den damaligen Geschehnissen und den globalen Ungleichgewichten unserer Zeit?

Marlow: Die Gier nach Elfenbein, die meinen Freund Kurtz in den Wahnsinn trieb, mag heute einer Gier nach anderen Ressourcen gewichen sein – sei es Öl, seltene Erden oder billige Arbeitskraft. Aber das Prinzip ist dasselbe geblieben: Die Mächtigen beuten die Schwachen aus, und die Ungerechtigkeit des globalen Nordens gegenüber dem globalen Süden ist eine direkte Folge dieser Kontinuität.

Schauen Sie sich die multinationalen Konzerne an, die heute die Weltwirtschaft beherrschen! Sind sie nicht die Erben der damaligen Handelsgesellschaften, die mich in den Kongo führten? Sie geben vor, Fortschritt und Entwicklung zu bringen, aber oft hinterlassen sie nur Zerstörung und Ausbeutung. Die Gesichter mögen sich geändert haben, aber die Masken sind die gleichen geblieben.

Joseph Conrad, Ihr Schöpfer, hat selbst Erfahrungen als Seemann und Reisender in die Konstruktion Ihrer Figur einfließen lassen. Inwieweit spiegeln Ihre Erlebnisse und Gedanken die innere Zerrissenheit Conrads zwischen seinen polnischen Wurzeln und seiner Wahlheimat England wider?

Marlow: Joseph Conrad… ein Mann, der zwischen den Welten stand. Ein Pole, der zum englischen Schriftsteller wurde, ein Seemann an Land. Ich spüre diese innere Zerrissenheit auch in mir selbst. Das Meer, das war meine Freiheit, meine Flucht vor den Zwängen der Gesellschaft. Aber es war auch der Ort, an dem ich mit der Hässlichkeit der Welt konfrontiert wurde, mit der Grausamkeit der Menschen.

Wie Conrad selbst, bin auch ich ein Beobachter, ein Suchender. Ich versuche, die Welt zu verstehen, die Motive der Menschen zu ergründen. Aber oft stoße ich dabei an die Grenzen der Sprache, an die Grenzen des Verstehens.

Charles Marlow im Kongo um 1900.

Im Roman spielt die Symbolik von Licht und Dunkelheit eine zentrale Rolle. Während Europa für Aufklärung und Fortschritt steht, wird Afrika mit Finsternis und Barbarei assoziiert. Inwieweit hinterfragt Ihre Erzählung diese vereinfachte Dichotomie?

Marlow: Licht und Dunkelheit… Schwarz und Weiß. Einfache Kategorien, die der Komplexität der Welt nicht gerecht werden. Ich habe im Herzen Afrikas Dinge gesehen, die dunkler waren als die dunkelste Nacht – Gewalt, Wahnsinn, die entfesselte Bestie im Menschen. Aber ich habe auch Lichtblicke erlebt, Momente der Menschlichkeit und des Mitgefühls, die mich daran erinnerten, dass die Welt nicht in Gut und Böse aufgeteilt werden kann.

Und Europa? Das vermeintliche Zentrum der Zivilisation? Auch dort lauert die Finsternis – in den Hinterzimmern der Macht, in den Herzen der Menschen. Der Kolonialismus selbst, war er nicht ein Beweis für die Barbarei, die im Herzen der europäischen Zivilisation steckte?

Die Reise ins Herz der Finsternis, das ist keine geografische Reise, sondern eine Reise in die Untiefen der menschlichen Seele. Und diese Reise, die führt uns alle an denselben Ort – unabhängig von Hautfarbe, Nationalität oder sozialem Status.

Moral, Wahrheit und das menschliche Herz

Herr Marlow, Sie haben die Gewalt und Grausamkeit des Kolonialismus am eigenen Leib erfahren. Was ist Ihre Botschaft an die Menschen im 21. Jahrhundert, die immer noch mit den Folgen von Krieg, Vertreibung und Ungerechtigkeit konfrontiert sind?

Marlow: Die größte Gefahr lauert nicht im Dschungel, nicht in irgendeinem „Herzen der Finsternis“ am Rande der Welt. Die größte Gefahr schlummert in uns selbst, in unserer Fähigkeit, unsere Mitmenschen zu vergessen, sie zu Objekten unserer Gier, unserer Angst oder unseres Hasses zu machen.

Was ich im Kongo erlebt habe, die Brutalität der Kolonialherren, die Ausbeutung der Einheimischen, das alles beruhte auf dieser einen Verleugnung unserer gemeinsamen Menschlichkeit.

Meine Botschaft an die Menschen heute ist deshalb ganz einfach: Vergesst nie, dass wir alle miteinander verbunden sind! Egal, wo wir herkommen, welche Hautfarbe wir haben, welchem Gott wir glauben – wir alle teilen dieselbe Erde, dieselbe Sehnsucht nach Frieden, nach Würde, nach einem Leben ohne Angst und Not.

Ihr Bericht ist durchzogen von einer tiefen Skepsis gegenüber der menschlichen Natur. Glauben Sie, dass der Mensch im Grunde gut oder böse ist, oder ist es komplizierter?

Marlow: Gut oder böse? Ach, wenn es doch nur so einfach wäre! Ich habe das Schlimmste im Menschen gesehen, die abgrundtiefe Fähigkeit zur Grausamkeit. Aber ich habe auch Güte und Mitgefühl erlebt, oft an den unvermutetesten Orten.

Die Wahrheit ist, dass der Mensch ein Widerspruchswesen ist. In uns allen ringen Licht und Schatten miteinander. Wir tragen das Potenzial für beides in uns: für die größte Liebe und die größte Verachtung.

Belgisch-Kongo um 1927. Gemeinfrei.

Im Zeitalter von Fake News und alternativen Fakten: Welchen Stellenwert haben Wahrheit und Wahrhaftigkeit in Ihrer Geschichte und wie beurteilen Sie den Umgang mit der Wahrheit in der heutigen Zeit?

Marlow: Wahrheit… ein schwieriges Wort. Manchmal ist es wie Nebel auf dem Fluss – flüchtig, schwer zu fassen. Was ich erzählen kann, sind meine Erfahrungen, meine Eindrücke, meine Wahrnehmung der Dinge. Ob das die ganze Wahrheit ist? Wer kann das schon von sich behaupten?

Aber eines weiß ich: Lügen und Verdrehungen, der bewusste Betrug an der Wahrheit – das führt immer ins Dunkle, ins Chaos. Das habe ich am eigenen Leib erfahren.

Die Welt heute, so scheint es mir, hat ihren Kompass verloren. Wahrheit ist verhandelbar geworden, ein Spielball der Interessen. Aber wir dürfen nicht müde werden, nach ihr zu suchen, sie einzufordern. Denn ohne Wahrheit, ohne ein gemeinsames Verständnis von dem, was ist, verlieren wir uns selbst und unsere Menschlichkeit.

Navigation durch die Strömungen des Lebens

Sie sind ein Mann der Tat, ein Abenteurer, der die Welt gesehen hat. Was ist Ihr Rat an die Menschen heute, die nach Sinn und Orientierung in einer komplexen Welt suchen?

Marlow: Die Welt war schon immer komplex, junger Mann. Erinnern Sie sich an meine Geschichte vom Kongo? Der Fluss schlängelte sich durch undurchdringlichen Dschungel, jeder Meter ungewiss, voller verborgener Gefahren. Das Leben selbst ist wie dieser Fluss. Es bietet keine Garantien, keine festgelegten Routen.

Mein Rat? Werden Sie nicht zu einem Blatt im Wind, das ziellos von jeder Böe hin und her geweht wird. Suchen Sie nicht nach einfachen Antworten, nach vorgefertigten Wahrheiten. Denn die Wahrheit ist selten einfach, oft schmerzhaft, und versteckt sich gern hinter Schleiern aus Nebel und Täuschung.

Beobachten Sie! Hören Sie zu! Aber vor allem: Hinterfragen Sie! Nehmen Sie nicht alles für bare Münze, was man Ihnen erzählt, was man Ihnen als Wahrheit verkaufen will. Bilden Sie sich Ihren eigenen Verstand. Nur so finden Sie Ihren eigenen Weg durch den Dschungel des Lebens. Und verlieren Sie nie die Neugier, die Freude am Entdecken, am Erkunden neuer Horizonte. Lassen Sie sich von der Strömung treiben, ja, aber halten Sie das Ruder fest in der Hand.

Der technologische Fortschritt hat die Welt seit Ihrer Reise flussaufwärts grundlegend verändert. Wie stehen Sie zu diesen Entwicklungen, und welche Chancen und Risiken sehen Sie im digitalen Zeitalter?

Marlow: Fortschritt… ein zweischneidiges Schwert. Manchmal frage ich mich, ob diese neuen Maschinen, diese „digitalen Wunderwerke“ nicht auch neue Monster gebären. Sie versprechen Vernetzung, Information, Fortschritt. Aber ich sehe auch die Gefahr der Entfremdung, der Oberflächlichkeit, der Verlorenheit in einer Welt aus Nullen und Einsen.

Was ist mit den menschlichen Verbindungen? Mit dem Blick in die Augen des Gegenübers? Daran erinnern mich weder Ihre „Smartphones“ noch Ihre „Computer“. Dennoch… vielleicht irre ich mich. Vielleicht birgt dieses „digitale Zeitalter“ auch Chancen für mehr Verständnis, für mehr Zusammenhalt zwischen den Menschen. Es liegt an uns, dafür zu sorgen, dass die Menschlichkeit nicht auf der Strecke bleibt.

Der Klimawandel und die Umweltzerstörung sind zu drängenden Problemen unserer Zeit geworden. Inwieweit erkennen Sie in der Geschichte Ihrer Reise eine Warnung vor den Folgen eines rücksichtslosen Umgangs mit der Natur?

Marlow: Der Kongo, den ich bereist habe, war ein Ort von beängstigender Schönheit und brutaler Gleichgültigkeit. Der Dschungel, prächtig und erbarmungslos zugleich, fraß sich an den Rändern der menschlichen Siedlungen fest, als wollte er sie verschlingen. Die Natur, das habe ich gelernt, ist weder gut noch böse. Sie folgt ihren eigenen Gesetzen, und wehe uns, wenn wir sie ignorieren, wenn wir sie als selbstverständlich erachten!

Was wir heute erleben, die Klimakatastrophe, das sterben der Arten, ist vielleicht nur ein Vorgeschmack auf das, was geschieht, wenn wir weiterhin die Natur ausbeuten, ohne Rücksicht auf die Folgen. Der Kongo, das war vielleicht nur ein Spiegel, in dem sich die Zukunft der Menschheit bereits abzeichnete. Hoffen wir, dass wir noch nicht zu spät erkennen, was wir aufs Spiel setzen.

Zwischen Schein und Sein, Vergangenheit und Gegenwart

Identitätspolitik und die Frage nach kultureller Aneignung werden heute intensiv diskutiert. Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund die Darstellung von Afrika und den Afrikanern in »Herz der Finsternis«?

Marlow: Eine schwierige Frage… fast so undurchdringlich wie der Dschungel selbst. Sie müssen verstehen, meine Reise liegt lange zurück. Damals sah die Welt anders aus. Afrika, das war für uns Europäer ein dunkler Kontinent, voller Geheimnisse und Gefahren. Wir reisten dorthin, getrieben von unseren eigenen Träumen und Dämonen, blind für die Realität der Menschen, die dort lebten.

Habe ich Afrika und seine Menschen gerecht dargestellt? Ich weiß es nicht. Ich habe versucht, die Wahrheit zu erzählen, so gut ich konnte. Aber die Wahrheit, das wissen Sie ja, ist ein scheues Geschöpf. Heute, mit dem Abstand der Jahre, sehe ich vieles anders. Ich erkenne die Anmaßung, die Überheblichkeit in unserem damaligen Blick. Die Afrikaner waren für uns nicht mehr als Staffage, Schattengestalten vor dem Hintergrund unserer eigenen Dramen. Ob mein Bericht heute noch so geschrieben werden könnte? Ich bezweifle es. Und vielleicht ist es auch gut so.

Handelsposten im Kongo um 1900. Gemeinfrei.

Der Roman endet mit einer Lüge – Marlow verschweigt Kurtz’ Verlobter die Wahrheit über dessen letzte Worte. Ist das Schweigen manchmal notwendig, um andere zu schützen, oder ist es immer ein Verrat an der Wahrheit?

Marlow: Die Wahrheit? Die Wahrheit? Manchmal wünschte ich, sie wäre so klar und rein wie ein Diamant. Aber oft ist sie eher wie ein Rohdiamant – in einer Schicht aus Erde und Gestein versteckt, schwer zu finden, noch schwerer zu fassen.

Kurtz… er war ein Mann der Extreme, voller Glanz und Abgründe. Seine letzten Worte… sie waren ein Blick in den Abgrund seiner Seele. Hätte ich seiner Verlobten diesen Anblick zumuten können? Hätte es ihr genutzt? Hätte es Kurtz gerecht geworden? Ich glaubte es nicht. Manchmal ist das Schweigen ein Akt der Gnade, ein Schutzwall gegen die Schrecken der Welt. Doch die Lüge, selbst aus den besten Absichten heraus, wirft immer einen Schatten. Das habe ich gelernt.

Herr Marlow, zum Abschluss: Welche Frage würden Sie sich selbst in einem Interview stellen, und wie würden Sie diese beantworten?

Marlow: Ah, zum Abschluss noch eine Reise in mein eigenes Herz? Die Frage, die mich immer wieder beschäftigt, ist diese: War ich selbst ein Teil der Finsternis? Habe ich, durch meine Reise, durch mein Schweigen, durch meine bloße Anwesenheit im Kongo, zu dem Grauen beigetragen?

Es ist eine Frage, die mich noch immer verfolgt, wie ein Schatten aus der Vergangenheit. Und ich fürchte, es ist eine Frage, auf die es keine einfache Antwort gibt. Vielleicht ist das die größte Lektion, die ich gelernt habe: dass wir alle, auf die eine oder andere Weise, mit der Finsternis verstrickt sind.

Die Reise geht weiter

Frische Herbstluft, vermischt mit dem Duft von nassem Laub, wehte durch die Straßen Stuttgarts. Drinnen, im schummrigen Licht, sitzt Marlow noch eine Weile an seinem Platz, den Blick auf die Tür gerichtet, als erwarte er jemanden. Oder ist es nur die Müdigkeit, die ihn schwerfällig macht, die Last der Geschichten, die er mit sich herumträgt?

Er greift nach seinem Mantel, wirft ihn sich über die Schultern und tritt hinaus in die Nacht. Hat er wirklich von seinen Abenteuern im Kongo erzählt, von der Faszination und dem Grauen, das von diesem undurchdringlichen Land ausging? Hat er wirklich von Kurtz gesprochen, dem Mann, der zum Gefangenen seiner eigenen Obsessionen geworden war?

Die Nacht hat Stuttgart fest im Griff. Die Straßen sind leer, nur vereinzelt huschen Schatten an den Hauswänden entlang. Marlow geht mit schnellen Schritten, als wolle er der Enge der Kneipe, der Enge seiner eigenen Vergangenheit entfliehen. Und doch: Die Geschichten, die er erzählt hat, sie bleiben zurück, wie ein Echo, das noch lange nachhallt.

Die Stuttgarter Gastwirtschaft ‚Zum Goldenen Stern‘

Denn Conrads Romane, so sehr sie auch in der Vergangenheit verwurzelt sind, haben nichts von ihrer Aktualität verloren. Sie handeln von der dunklen Seite der menschlichen Natur, von der Verlockung der Macht und der Gefahr, die von Ideologien ausgeht, die den Anspruch erheben, die Welt zu erklären und zu verbessern. Themen, die uns auch heute noch beschäftigen, in einer Welt, die von Krisen und Konflikten geprägt ist.

Marlow verschwindet in der Dunkelheit, eine Gestalt, die zwischen Fiktion und Realität zu verschwimmen scheint. War er wirklich hier, der Seemann mit den Geschichten aus einer anderen Zeit, aus einer anderen Welt? Oder war er nur eine Ausgeburt der Fantasie, heraufbeschworen aus den Seiten eines Buches?

Die Antwort auf diese Frage, so scheint es, liegt verborgen in den Tiefen der Nacht, in den Tiefen der menschlichen Seele. Wie ein Schiff, das in See sticht, ohne zu wissen, ob es jemals wieder Land erreichen wird, so begeben wir uns auf die Reise, die uns Conrads Romane und Marlows Geschichten eröffnen: eine Reise in die tiefsten Winkel der menschlichen Existenz.

Joseph Conrad

Das Herz der Finsternis

Roman (1926). E-Book. Erste Auflage 2020.

Erschienen am 12. Mai 2020

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