Der Roman »Ich, der Augenzeuge« von Ernst Weiß ist ein erschütterndes Zeugnis einer Zeit des Umbruchs, der Verfolgung und des Krieges. Der Roman, geschrieben im Pariser Exil, erzählt die Geschichte eines Arztes, der im Ersten Weltkrieg Zeuge der »Heilung« eines an hysterischer Blindheit leidenden Soldaten namens A.H. wird. In ihm erkennen die Leser Adolf Hitler, dessen Aufstieg der Arzt später mit Schrecken verfolgt.
Die Entstehungsgeschichte des Romans ist eng mit Weiß’ eigener Biografie und seinen Fluchterfahrungen verbunden. Ernst Weiß wurde am 28. August 1882 in Brünn geboren. Nach seinem Medizinstudium arbeitete er zunächst als Schiffsarzt, bevor er sich ganz der Schriftstellerei widmete. Er war ein enger Freund von Schriftstellern wie Franz Kafka, Stefan Zweig und Thomas Mann. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 floh Weiß, der jüdischer Abstammung war, zunächst nach Prag und Wien, später nach Paris. Dort schrieb er, gezeichnet von den Erfahrungen des Krieges und der Verfolgung, seinen letzten Roman »Der Augenzeuge«.
Der Roman entstand unter schwierigen Bedingungen: Weiß lebte im Exil in ständiger Angst vor den Nazis und litt unter materieller Not. Er bezweifelte die Qualität seines Werkes und arbeitete auf Anraten von Stefan Zweig sogar an einer zweiten Fassung mit dem Titel »Narrenkaiser«, die jedoch nicht erhalten blieb. Der Roman wurde 1939 fertiggestellt, aber erst 1963, 24 Jahre nach Weiß‘ Tod, veröffentlicht. Aufgrund von Rechtsstreitigkeiten musste der Titel in »Ich, der Augenzeuge« geändert werden.
»Ich, der Augenzeuge« ist ein komplexer und vielschichtiger Roman, der auf verschiedenen Ebenen interpretiert werden kann. Er ist zum einen ein persönliches Zeugnis der Schrecken des Krieges und der Verfolgung, zum anderen aber auch eine scharfe Kritik an der Gesellschaft, die den Aufstieg des Nationalsozialismus ermöglichte. Weiß verknüpft in seinem Roman geschickt Fiktion und Realität, indem er historische Ereignisse und Persönlichkeiten in die Geschichte seines Protagonisten einbettet.
Der Protagonist, ein Arzt, ist ein gebrochener Mann, der von den traumatischen Erlebnissen des Krieges und der Verfolgung gezeichnet ist. Er versucht, die Welt und seine eigene Rolle darin zu verstehen. Seine Geschichte ist zugleich eine Geschichte des 20. Jahrhunderts, einer Zeit des Krieges, der Gewalt und des totalen Zerfalls von Werten und Moral.
Der Roman beginnt mit der Kindheit des Protagonisten in einem kleinbürgerlichen, von Antisemitismus geprägten Milieu. Der junge Augenzeuge ist ein Außenseiter, der sich nach Liebe und Anerkennung sehnt. Ein prägendes Erlebnis ist ein schwerer Unfall, bei dem er fast stirbt. Diese Erfahrung stärkt seinen Willen und seine Widerstandskraft, aber sie lässt ihn auch erkennen, wie zerbrechlich das Leben ist.
Im Ersten Weltkrieg arbeitet der Protagonist als Arzt in einem Lazarett hinter der Front. Er ist konfrontiert mit dem Leid der Soldaten und den Schrecken des Krieges. In dieser Zeit begegnet er dem Gefreiten A.H., der an hysterischer Blindheit leidet. Der Arzt heilt ihn mit Hilfe von Hypnose und Suggestion, indem er an seinen Fanatismus appelliert. Jahre später, nach Hitlers Machtergreifung, wird der Arzt wegen seines Wissens um Hitlers Krankheit verfolgt und in ein Konzentrationslager verschleppt. Ihm gelingt die Flucht, und er geht ins Exil nach Frankreich.
Im Exil ist der Protagonist zerrissen zwischen der Rolle des passiven Beobachters und dem Wunsch, aktiv gegen den Nationalsozialismus zu kämpfen. Er fühlt sich schuldig, Hitler geheilt zu haben, und ringt mit der Frage nach seiner eigenen Verantwortung. Am Ende des Romans schließt er sich den Republikanern im Spanischen Bürgerkrieg an.
»Ich, der Augenzeuge« ist ein eindringliches Plädoyer für Menschlichkeit und Zivilcourage in einer Zeit der Barbarei. Weiß zeigt, wie der Krieg die Menschen verändert, wie er ihre Seelen vergiftet und sie zu brutalen Taten treibt. Der Roman ist aber auch eine Warnung vor den Gefahren des Fanatismus und der Massenpsychose. Weiß zeigt, wie leicht sich Menschen von demagogischen Führern manipulieren lassen und wie schnell aus Begeisterung Hass und Gewalt werden können.
Der Roman ist geprägt von einer pessimistischen Grundstimmung, doch es gibt auch Momente der Hoffnung und des Widerstands. Der Protagonist, der sich selbst immer wieder als Feigling und Versager bezeichnet, findet am Ende die Kraft, für seine Überzeugungen einzustehen und gegen das Böse zu kämpfen.
Weiß’ Roman ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Seine komplexe Erzählstruktur mit Rückblenden und Vorausdeutungen spiegelt die Zerrissenheit des Protagonisten und die Zeit des Umbruchs wider. Der Roman ist voll von symbolischen Bezügen und Metaphern, die zum Nachdenken anregen. Weiß’ Sprache ist präzise und eindringlich, sie zeichnet die Schrecken des Krieges und der Verfolgung in aller Deutlichkeit nach.
Neben der literarischen Qualität des Romans ist auch seine historische Bedeutung hervorzuheben. »Ich, der Augenzeuge« ist ein wichtiges Dokument der Zeitgeschichte, das den Aufstieg des Nationalsozialismus und die Schrecken des Zweiten Weltkriegs aus der Sicht eines Verfolgten schildert. Der Roman ist zugleich eine Mahnung an die Nachwelt, die Gefahren des Totalitarismus und der Intoleranz nicht zu vergessen.
Einige interessante Details aus den Quellen zum Autor und zum Roman:
- Ernst Weiß’ Fluchterfahrungen: Weiß floh vor den Nationalsozialisten im Jahr 1933 zunächst nach Prag, dann nach Wien und schließlich nach Paris. In Paris lebte er in ständiger Angst vor der Gestapo und musste sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten. Seine finanzielle Situation war prekär, und er war auf die Unterstützung von Freunden wie Stefan Zweig und Thomas Mann angewiesen.
- Die Bedeutung des Romans »Ich, der Augenzeuge«: Der Roman gilt als eines der wichtigsten Werke der deutschen Exilliteratur. Er ist ein eindringliches Zeugnis der Zeit des Nationalsozialismus und eine Warnung vor den Gefahren des Totalitarismus. Der Roman wurde in mehrere Sprachen übersetzt und auch verfilmt.
- Die Rezeption des Romans: Nach seiner Veröffentlichung 1963 wurde der Roman von der Kritik gelobt und als ein wichtiges Werk der deutschen Literatur anerkannt. Er wurde auch in mehrere Sprachen übersetzt und verfilmt.
- Die Rolle von Stefan Zweig: Stefan Zweig war ein enger Freund und Förderer von Ernst Weiß. Er unterstützte ihn finanziell und gab ihm Ratschläge zu seinen Werken. Zweig hatte auch Einfluss auf die Entstehung des Romans »Ich, der Augenzeuge«. Er riet Weiß, den Roman zu überarbeiten und einige Stellen zu ändern, was Weiß auch tat. Die überarbeitete Fassung des Romans mit dem Titel »Narrenkaiser« ist jedoch verloren gegangen.
Die Geschichte von Ernst Weiß und die Entstehung seines Romans »Ich, der Augenzeuge« sind eng mit den dunkelsten Kapiteln der europäischen Geschichte verbunden. Der Roman ist ein erschütterndes Zeugnis der Schrecken des Krieges, der Verfolgung und des Totalitarismus. Er ist aber auch ein Dokument des menschlichen Willens zum Widerstand und der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
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Ernst Weiß
Ich, der Augenzeuge
Roman. E-Book. Erste Auflage 2025.
Erschienen am 14. Januar 2025