Der „Schatten der Vergangenheit“ – ein Motiv, das sich durch das Werk Joseph Conrads zieht und wohl in keiner seiner Figuren so deutlich zum Ausdruck kommt wie in Lord Jim. Heute Abend ist er unser Gast.
Draußen vor den Fenstern des alten Hamburger Hafenlokals ‚Zur Hafenecke‘ taucht die Dämmerung die Schiffe in ein diffuses Licht. Der Geruch von Salz und Teer liegt schwer in der Luft, ein beständiges Hintergrundrauschen aus fernen Schiffshörnern und dem leisen Rauschen der Elbe dringt an unsere Ohren. Im Inneren flackern Kerzen auf den Tischen, spiegeln sich in den polierten Messingteilen und tauchen den Raum in ein warmes, fast unwirkliches Licht.
An einem Tisch am Fenster, mit Blick auf die majestätischen Kräne, die ihre Ausleger in den Abendhimmel recken, sitzt er: Lord Jim. Lord Jim wirkt ruhig und gefasst, doch in seinen Augen spiegelt sich eine tiefe Melancholie, eine Sehnsucht nach einer fernen, vielleicht unerreichbaren Küste. Es ist die Sehnsucht eines Mannes, der von den Schatten seiner Vergangenheit eingeholt wurde, der auf der Suche nach Erlösung und einem Weg ist, mit seinen Fehlern zu leben.
Seine Geschichte, festgehalten in den Worten des Seemanns und Chronisten Charles Marlow, hat Generationen von Lesern in ihren Bann gezogen. Sie ist eine Geschichte von Schuld und Sühne, von der Sehnsucht nach Heldentum und der Konfrontation mit der eigenen Fehlbarkeit. Lord Jim – der junge Seemann, der davon träumte, ein Held zu sein, der aber in einem entscheidenden Moment versagte und sein Schiff, die Patna, mit 800 Pilgern an Bord, im Stich ließ.
Heute Abend haben wir die einzigartige Gelegenheit, Lord Jim selbst zu begegnen. Ihn zu fragen, was in jener schicksalhaften Nacht geschah, welche Dämonen ihn trieben, welche Last er all die Jahre mit sich trug. Wir wollen versuchen, hinter die Kulissen der Fiktion zu blicken, die Grenzen zwischen Romanfigur und Realität zu überschreiten und einen Blick in die Tiefen seiner Seele zu werfen.
Lord Jim, wir danken Ihnen herzlich, dass Sie heute Abend unsere Fragen beantworten und uns an Ihrem inneren Kampf teilhaben lassen.
(Lord Jim nickt höflich. Er spricht langsam, mit Bedacht, und man hört einen leichten Akzent in seiner Stimme, der an ferne Länder und vergangene Zeiten erinnert.)
Herr Jim, die Leser kennen Sie als „Lord Jim“ – ein Name, der mit Abenteuer, Ehre, aber auch Tragik verbunden ist. Fühlen Sie sich von diesem Namen noch immer repräsentiert?
(Lord Jim zögert, blickt nachdenklich in die Ferne, als suche er nach den richtigen Worten. Sein Blick ist ernst, beinahe melancholisch.)
Lord Jim: Lord Jim… Ein Name, der so viel bedeutet und doch so wenig über den Menschen dahinter aussagt. Ein Name, der mir von anderen gegeben wurde, in einer anderen Welt, in einer anderen Zeit. Die Malaien sahen in mir einen Helden, einen Retter, einen „Tuan“. Aber war ich das wirklich?
Die Ehre, die mir in Patusan zuteilwurde, war vergänglich, ebenso wie das Glück, das ich dort fand. Die Tragik, ja, die Tragik ist geblieben, als Schatten, der mich bis heute begleitet.
Kann ich mich von diesem Namen lossagen? Ich bin nicht mehr der junge, naive Seemann, der von Heldentaten träumte und an der Realität scheiterte. Die Jahre haben mich geprägt, mich gelehrt, dass Ehre und Schande, Ruhm und Scheitern oft nah beieinander liegen. Ob mich der Name Lord Jim noch repräsentiert? Vielleicht. Aber er erzählt nur einen Bruchteil meiner Geschichte.
Ihre Geschichte spielt in einer Zeit großer Umbrüche, des europäischen Imperialismus und der Begegnung unterschiedlicher Kulturen. Wie haben Sie diese Zeit erlebt? Was bedeutete es für Sie, ein junger Engländer in dieser Welt zu sein?
Lord Jim: Als junger Mann verließ ich England voller romantischer Vorstellungen, angetrieben von den Geschichten über ferne Länder und heldenhafte Abenteuer. Das Britische Empire, so schien es, bot jungen Männern wie mir die Möglichkeit, Großes zu leisten, die Welt zu entdecken, ja, vielleicht sogar, sie zu verändern.
Doch die Realität in den Kolonien war eine andere. Ich erlebte die Ungerechtigkeit, die Brutalität, die Ausbeutung, die mit dem Imperialismus einhergingen. Ich sah die Kluft zwischen den Kulturen, die Missverständnisse, die Konflikte, die daraus entstanden. Und ich begann zu hinterfragen, welche Rolle ich, als junger Engländer, in dieser Welt spielen wollte. War ich ein Teil des Problems oder konnte ich zu einer Lösung beitragen?
Sie sind als Sohn eines Pfarrers in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen. Was hat Sie dazu bewogen, Seemann zu werden und in die Ferne zu schweifen? War es Abenteuerlust, der Wunsch nach Ruhm, die Suche nach etwas anderem?
Lord Jim: Mein Vater, ein gottesfürchtiger Mann, hätte es wohl vorgezogen, mich eines Tages als seinen Nachfolger auf der Kanzel zu sehen. Doch mich zog es hinaus, fort aus den engen Grenzen meines Elternhauses, meines Dorfes, meines Landes.
Die Geschichten über mutige Seefahrer, die Helden der britischen Marine, die Abenteuer in fernen Ländern – all das beflügelte meine Fantasie. Ich träumte von Ruhm, von Anerkennung, von der Bewunderung in den Augen meiner Mitmenschen. Doch im Rückblick war es wohl mehr als bloße Abenteuerlust, die mich antrieb. Es war die Suche nach mir selbst, nach meinem Platz in der Welt, nach einem Leben, das meinen Vorstellungen von Heldentum und Größe entsprach.
„Der Mensch ist erstaunlich, aber er ist kein Meisterstück“ – diese Worte stammen von Stein, einer Figur aus Ihrem Leben. Wie interpretieren Sie diesen Satz? Sehen Sie sich selbst als „Meisterstück“?
(Jim lächelt wehmütig. Er nimmt einen Schluck aus seinem Glas und blickt in die Ferne, als würde er sich an vergangene Zeiten erinnern.)
Lord Jim: Steins Worte… ja, sie hallen noch immer in mir wider. Der alte Mann, umgeben von seinen Schmetterlingen, erkannte die menschliche Natur wie kaum ein anderer. „Der Mensch ist erstaunlich“, sagte er, und er hat Recht. Wir sind zu Großem fähig, zu Liebe, zu Mitgefühl, zu Aufopferung. Aber wir sind auch fehlbar, voller Widersprüche, gefangen in unseren Ängsten und Begierden.
Ein Meisterstück? Nein, das bin ich nicht. Und wohl auch kein anderer Mensch. Wir alle tragen Fehler in uns, Narben der Vergangenheit, unerfüllte Sehnsüchte. Die Erkenntnis dieser Unvollkommenheit, das ist es, was uns menschlich macht. Stein lehrte mich, dass wahre Stärke nicht in der Illusion der Perfektion liegt, sondern in der Annahme unserer selbst, mit all unseren Schwächen.
Der Vorfall auf der „Patna“ hat Ihr Leben nachhaltig geprägt. Können Sie versuchen, den Lesern diesen Moment der Entscheidung zu schildern, der Sie so lange verfolgte?
(Jims Gesichtsausdruck verfinstert sich. Er zündet sich eine Zigarette an und blickt ins Leere, als würde er den Moment noch einmal durchleben.)
Lord Jim: Die „Patna“ steht für mich für Scham und Misserfolg. Ich erinnere mich an die drückende Hitze, den beißenden Geruch von Angst, die Schreie der Pilger. Das Schiff, eine schwimmende Ruine, dem Untergang geweiht. Zumindest glaubte ich das. Ich, der junge Offizier, voller romantischer Vorstellungen von Heldentum, sah mich mit der Realität konfrontiert. Und ich versagte.
Es war, als würde die Zeit stillstehen. Ich spürte den Blick der anderen Offiziere, des Kapitäns, auf mir. Ihre Feigheit war greifbar. Und dann, plötzlich, dieser Impuls, dieser unwiderstehliche Drang, mich zu retten. Ich sprang. Ein Sprung in die Dunkelheit, in die Schande, in ein Leben, das nie wieder dasselbe sein sollte.
Ich weiß, viele werden mich verurteilen. Und ja, ich habe falsch gehandelt. Ich habe die Prinzipien der Ehre und der Pflicht verraten, an die ich immer geglaubt hatte. Aber ich war nicht der Einzige, der versagte. Der Kapitän, die Besatzung, sie alle retteten sich und überließen die Pilger ihrem Schicksal. Nur ich wurde zur Rechenschaft gezogen, musste die Konsequenzen tragen.
Obwohl ich in Patusan Frieden fand, konnte ich den Schatten der „Patna“ nie ganz abschütteln. Er erinnert mich daran, dass wir alle zu Feigheit und Verrat fähig sind, selbst wenn wir uns noch so sehr nach Heldentum sehnen.
Sie haben den Kapitän und die Mannschaft im Stich gelassen, obwohl niemand zu Schaden kam. War es die Angst vor dem Tod oder die Angst vor der Schande, die Sie zur Flucht trieb?
(Jim schweigt einen Moment lang, der Rauch seiner Zigarette steigt zur Decke auf. Seine Augen wirken auf einmal müde, gezeichnet von der Last der Erinnerung. Er spricht langsam, mit leiser Stimme.)
Lord Jim: Ja, es war Angst in jener Nacht auf der „Patna“. Die Angst vor dem Unbekannten, dem kalten Griff des Todes. Aber es war nicht die Angst, die mich zum Springen brachte. Es war… eine Art Lähmung, eine Unfähigkeit, klar zu denken, zu handeln.
Ich sah die Feigheit der anderen, spürte ihre Panik, und für einen Moment, einen winzigen Moment, schien ihre Angst auch mich anzustecken. Die Vorstellung, mit diesem sinkenden Schiff unterzugehen, allein, verlassen, verraten von der Mannschaft – sie war unerträglich.
Schande… ja, die kam später, mit voller Wucht. Die Erkenntnis, dass ich meiner eigenen Vorstellung von Heldentum nicht gerecht geworden war, dass ich versagt hatte, als es darauf ankam.
Dieser Widerspruch, diese Diskrepanz zwischen dem, was ich sein wollte, und dem, was ich getan hatte – sie wurde zu meinem ständigen Begleiter.
Joseph Conrads Erzählweise ist komplex, er springt zwischen Zeitebenen und Perspektiven. Wie haben Sie diese Art des Erzählens wahrgenommen, als wären Sie sich selbst ein Rätsel?
(Jim schmunzelt. Ein Anflug von Ironie blitzt in seinen Augen auf.)
Lord Jim: Marlow… ja, der gute Marlow. Er war besessen von meiner Geschichte, wollte jedes Detail erfahren, jeden Gedanken, jedes Gefühl. Und doch, so sehr er sich auch bemühte, er hat mich nie ganz durchschaut.
Seine Erzählungen, seine Sprünge zwischen den Zeiten, seine ständigen Interpretationen – sie waren wie ein Spiegelkabinett, in dem sich die Realität aufzulösen schien. Es war, als würde er ein Puzzle zusammensetzen, ohne alle Teile zu besitzen. Und vielleicht fehlte ja tatsächlich ein Teil. Der Teil, der das Geheimnis meiner Seele bewahrte.
Ist es Ihnen schwer gefallen, sich mit dem Urteil der anderen auseinanderzusetzen? Wie sind Sie mit der Last der Schande umgegangen?
(Jim schweigt wieder, sein Blick wird ernst. Er drückt seine Zigarette aus und blickt seinen Gesprächspartner direkt an.)
Lord Jim: Das Urteil der anderen war ein ständiger Stachel in meinem Fleisch. Die verächtlichen Blicke, die Flüstereien hinter vorgehaltener Hand, die Angst, erkannt und verurteilt zu werden.
Ich versuchte, der Schande zu entfliehen, indem ich mich in der Fremde versteckte, unter falschem Namen lebte. Doch die Vergangenheit holte mich immer wieder ein.
In Patusan, ja, dort fand ich für eine Weile Frieden. Die Malaien kannten meine Geschichte nicht, sie sahen in mir den Helden, den Retter. Aber auch dieses Glück war vergänglich.
Die Last der Schande, sie hat mich nie ganz verlassen. Sie hat mich gelehrt, dass wahre Erlösung nicht im Urteil der anderen liegt, sondern in der Versöhnung mit sich selbst.
„Er ist einer von uns“ – dieser Satz, gesprochen von Marlow, ist fast so etwas wie ein Running Gag unter Conrad-Kennern geworden. Was denken Sie, wenn Sie das hören?
(Jim lacht leise, und ein Hauch von Melancholie schwingt in seiner Stimme mit.)
Lord Jim: „Einer von uns“ war Marlows ständiges Mantra. Es ist schon amüsant, wie dieser Satz durch die literarische Geschichte gegeistert ist. Manchmal frage ich mich, ob Marlow überhaupt wusste, was er damit meinte.
Wollte er mich damit entschuldigen, meine Schwäche rechtfertigen? Oder wollte er sich selbst und seinen Zuhörern einreden, dass wir alle zu solchem Versagen fähig sind?
Vielleicht ist es ja beides. Vielleicht liegt die Wahrheit, wie so oft, irgendwo in der Mitte.
Ich glaube, Marlow war fasziniert von mir, weil er in mir einen Spiegel seiner selbst sah. Er erkannte seine eigenen Träume, seine Sehnsüchte, aber auch seine Ängste in mir.
„Einer von uns“… ein Satz, der gleichzeitig verbindet und ausgrenzt. Er erinnert uns daran, dass wir alle Teil der menschlichen Gemeinschaft sind, mit all ihren Fehlern und Widersprüchen.
In Patusan fanden Sie schließlich Anerkennung und Liebe. War es der Wunsch nach Wiedergutmachung, der Sie dorthin trieb, oder die Sehnsucht nach einem Neuanfang, einem Ort, an dem Sie Ihre eigenen Regeln aufstellen konnten?
(Jim blickt nachdenklich in die Ferne. Seine Augen wirken auf einmal älter, weiser.)
Lord Jim: Patusan ist ein Ort voller Hoffnung und Versprechungen, aber auch des Scheiterns.
Ja, ich sehnte mich nach einem Neuanfang, nach einem Ort, an dem die Schatten der Vergangenheit mich nicht mehr verfolgten. Ich wollte beweisen, dass ich zu Großem fähig war, dass ich die Vergangenheit hinter mir lassen und ein neues Leben beginnen konnte.
Und für eine Weile schien es, als könnte dieser Traum Wirklichkeit werden. Die Malaien akzeptierten mich, sie vertrauten mir, sie sahen in mir ihren „Tuan Jim“, ihren Lord Jim.
Aber die Vergangenheit lässt sich nicht so einfach abschütteln. Sie holt uns immer wieder ein, in unseren Träumen, in unseren Ängsten, in den Gesichtern der Menschen, die uns begegnen.
Wiedergutmachung… ja, die war auch ein Teil meiner Motivation. Ich wollte die Schuld, die ich auf der „Patna“ auf mich geladen hatte, durch Taten der Tapferkeit und des selbstlosen Einsatzes wiedergutmachen.
Aber vielleicht war es auch eine Form der Selbsttäuschung. Denn wahre Wiedergutmachung kann es nicht geben, solange man versucht, der Vergangenheit zu entfliehen.
Patusan war für mich beides: ein Ort der Flucht und ein Ort der Konfrontation. Ein Ort, an dem ich erkennen musste, dass wahre Freiheit nicht in der Flucht vor der Vergangenheit liegt, sondern in ihrer Annahme.
Glauben Sie an Schicksal? Oder sind es unsere Entscheidungen, die unseren Weg bestimmen?
(Jim schweigt lange und blickt ins Leere. Man spürt die Last seiner Geschichte auf seinen Schultern. Schließlich antwortet er mit rauer Stimme.)
Lord Jim: Schicksal ist ein Wort, so schwer wie ein Anker. Es gab Zeiten in meinem Leben, da glaubte ich an die Macht des Schicksals, an eine unsichtbare Hand, die die Fäden unseres Lebens lenkt. Der Sprung von der „Patna“… war das Schicksal? Oder war es meine eigene Schwäche, die mich dazu trieb?
In Patusan glaubte ich, dem Schicksal entkommen zu sein. Ich schuf mir eine neue Existenz, ein neues Leben, weit weg von den Schatten meiner Vergangenheit. Doch am Ende holte mich das Schicksal wieder ein.
Heute glaube ich, dass die Wahrheit irgendwo zwischen Schicksal und freiem Willen liegt. Wir alle werden mit einem bestimmten Potenzial, mit bestimmten Schwächen geboren. Aber es liegt an uns, wie wir mit diesem Erbe umgehen, welche Entscheidungen wir treffen.
Der Sprung von der „Patna“ hat mich gelehrt, dass selbst ein einziger Moment, eine einzige Entscheidung, unseren Lebensweg für immer verändern kann.
Würden Sie sagen, dass Sie in Patusan zu sich selbst gefunden haben? Oder hat Sie die Vergangenheit stets eingeholt?
(Jim zündet sich eine Zigarette an, der Geruch von Tabak und Gewürzen liegt schwer in der Luft. Er antwortet mit leiser, müder Stimme.)
Lord Jim: Patusan hatte für mich zwei Seiten. Es war der Ort, an dem ich meine größte Erfüllung und mein größtes Glück fand. Die Liebe von Jewel, die Freundschaft mit Dain Waris, der Respekt der Malaien – all das gab mir das Gefühl, endlich angekommen zu sein.
Und doch war da immer diese Stimme in meinem Inneren, die Stimme der Vergangenheit, die mich an meine Schuld, an meine Schande erinnerte. Konnte ich jemals wirklich glücklich sein, wissend, was ich getan hatte?
Ich glaube, in Patusan fand ich nicht zu meinem alten Selbst zurück, dem naiven, idealistischen Jim, der von Heldentaten träumte. Aber ich schuf mir eine neue Identität, einen neuen Jim, der aus seinen Fehlern gelernt und die Verantwortung für seine Taten übernommen hatte.
Ob mich die Vergangenheit jemals ganz losgelassen hat, ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Vielleicht ist das der Preis, den wir für unsere Fehler bezahlen müssen – die ständige Konfrontation mit den Schatten unserer selbst.
Wenn Sie heute leben würden – welche Werte wären Ihnen in unserer schnelllebigen, globalisierten Welt wichtig? Würden Sie die Welt bereisen, ein Leben voller Abenteuer suchen?
(Jim lehnt sich zurück und blickt seinen Gesprächspartner nachdenklich an. Seine Augen funkeln, als entdecke er eine neue Wahrheit.)
Lord Jim: Die Welt heute ist ein Ort voller Möglichkeiten, aber auch voller Gefahren. Der Drang nach Abenteuer, nach der Ferne – er ist mir geblieben. Aber ich glaube, in dieser Welt sind andere Werte wichtiger: Verantwortungsbewusstsein, Mitgefühl, die Fähigkeit, über den eigenen Tellerrand zu schauen.
Die Globalisierung hat die Welt zwar kleiner gemacht, aber auch komplexer. Heute reicht es nicht mehr aus, nur nach Ruhm und Ehre zu streben. Wir müssen lernen, mit anderen Kulturen in Frieden zu leben, ihre Werte zu respektieren, von ihnen zu lernen.
Ja, ich würde die Welt bereisen, aber mit anderen Augen. Nicht als Eroberer, sondern als Reisender, der offen ist für neue Erfahrungen, für andere Perspektiven.
„Gerechtigkeit ist ein menschliches Konzept, und Conrads Geschichten handeln oft von der Unzulänglichkeit solcher Konzepte.“
Joseph Conrad sagte einmal: „Ich bin nichts als ein Erzähler.“ Was denken Sie: Hat er Ihnen mit „Lord Jim“ gerecht?
(Jim nimmt einen tiefen Zug aus seiner Zigarette, der Rauch ringelt sich um sein Gesicht wie die Nebel der Vergangenheit. Er wirkt fast amüsiert von der Frage.)
Lord Jim: „Nichts als ein Erzähler“… (Er lacht leise) Ein bescheidener Titel für einen Mann, der Welten erschaffen konnte, nicht wahr?
War Conrad mir gegenüber mit „Lord Jim“ gerecht? Eine schwierige Frage. Gerechtigkeit ist ein menschliches Konzept, und Conrads Geschichten handeln oft von der Unzulänglichkeit solcher Konzepte.
Er hat mich nicht geschont, das ist sicher. Er hat meine Schwächen, meine Fehler, meine inneren Kämpfe schonungslos offengelegt. Aber hat er mich damit unfair behandelt? Ich glaube nicht.
Conrad war ein Meister der menschlichen Psyche. Er verstand es, die Abgründe unserer Seelen auszuloten, die verborgenen Motive unserer Handlungen aufzudecken. Und er hatte keine Angst, die dunkle Seite der menschlichen Natur zu zeigen.
In gewisser Weise war er wie Stein, der Schmetterlingsammler. Er sammelte menschliche Erfahrungen, menschliche Seelen, und er heftete sie fest auf das Papier, um sie zu sezieren, zu analysieren, zu verstehen.
„Lord Jim“ ist keine Heldengeschichte. Es ist die Geschichte eines Mannes, der versagt, der mit den Konsequenzen seiner Taten leben muss. Aber es ist auch die Geschichte eines Mannes, der nach Erlösung sucht, der versucht, sich mit seiner Vergangenheit zu versöhnen.
Ob Conrad mir damit gerecht geworden ist, müssen andere beurteilen. Ich weiß nur, dass er meine Geschichte erzählt hat, so gut er es eben konnte. Und dafür bin ich ihm dankbar.
Was würden Sie jungen Menschen heute mit auf den Weg geben? Was kann man aus Ihrer Geschichte lernen?
(Jims Blick wird ernst, er scheint die Last der Welt auf seinen Schultern zu spüren. Langsam, mit Bedacht, wählt er seine Worte.)
Lord Jim: Junge Menschen leben heute in einer Welt voller Möglichkeiten, aber auch voller Herausforderungen. Die Welt hat sich verändert, seit ich die Meere besegelte. Sie ist schneller, lauter, komplexer geworden.
Aber einige Dinge bleiben immer gleich. Der Drang nach Abenteuer, nach der Ferne – er liegt in der Natur des Menschen. Die Sehnsucht nach Liebe, nach Anerkennung, nach einem Platz in der Welt.
Was kann man aus meiner Geschichte lernen? Vielleicht dies: Habt keine Angst vor Fehlern. Jeder macht Fehler, es ist Teil des Menschseins. Wichtig ist, dass man aus seinen Fehlern lernt, dass man die Verantwortung für seine Taten übernimmt.
Lasst euch nicht von eurer Vergangenheit gefangen nehmen. Die Vergangenheit können wir nicht ändern. Aber wir können entscheiden, wie wir mit ihr umgehen, welche Lehren wir aus ihr ziehen.
Und vor allem: Verliert nie den Glauben an euch selbst, an eure Träume. Die Welt braucht Menschen mit Visionen, mit Mut, mit dem Willen, etwas zu bewegen.
(Jim steht auf, geht zum Fenster und blickt hinaus in die Ferne. Die untergehende Sonne taucht den Horizont in ein warmes Licht. Nach einer Weile dreht er sich um, ein Lächeln auf den Lippen.)
Geht hinaus in die Welt, junge Menschen! Entdeckt sie, erforscht sie, macht sie zu einem besseren Ort. Und vergesst nie: „Er ist einer von uns“…
Mit diesen Worten verabschiedet sich Lord Jim. Seine Gestalt verschwimmt im letzten Licht des Tages, doch seine Worte hallen noch lange nach. Es sind Worte, die uns zum Nachdenken anregen, die uns daran erinnern, dass selbst die größten Fehler nicht das Ende bedeuten müssen, sondern eine Chance für einen Neuanfang.
Draußen, auf der Elbe, sind die Schiffslichter angegangen. Sie tanzen auf den dunklen Wellen und erinnern an ferne Küsten, an das unbekannte Land, nach dem Jim zeitlebens gesucht hat. Oder bilden wir uns das alles nur ein? War dieses Treffen, dieses intensive Gespräch, nur ein Produkt unserer Fantasie, angestoßen von den Erzählungen Marlows, von der magischen Atmosphäre dieses Ortes?
Die Grenze zwischen Fiktion und Realität, zwischen den Geschichten, die wir lesen und den Geschichten, die wir leben, verläuft fließend. Joseph Conrad verstand es meisterhaft, diese Grenze zu verschwimmen, seine Leser mit auf die Reise zwischen den Welten zu nehmen. Wie Marlow, der uns Jims Geschichte erzählt, sitzen auch wir hier und fragen uns, was wahr ist und was Einbildung. War Jim wirklich hier, an diesem Tisch, und erzählte uns von seiner Sehnsucht nach Erlösung, von seinem unerbittlichen Kampf mit den Schatten seiner Vergangenheit?
Wir blicken auf die leeren Gläser vor uns, auf die abgebrannten Zigarettenstummel im Aschenbecher. Hatte Jim wirklich aus diesen Gläsern getrunken, hatte er diese Zigaretten geraucht? Oder sind es nur Requisiten unserer eigenen Inszenierung?
Die Bedeutung von Conrads Romanen, insbesondere von „Lord Jim“, liegt in ihrer zeitlosen Aktualität. Jim ist eine Figur unserer Zeit, ein Suchender, ein Getriebener, der versucht, in einer Welt voller Widersprüche und Ungewissheiten seinen Platz zu finden. Wie Jim ringen wir mit unseren eigenen Schwächen, tragen wir die Last unserer Vergangenheit mit uns herum. Conrads Romane sind keine einfachen Abenteuergeschichten, sie sind komplexe psychologische Studien, die uns die Abgründe der menschlichen Seele vor Augen führen.
War es diese Erkenntnis, die uns an diesem Abend so faszinierte, die uns glauben ließ, Lord Jim persönlich zu begegnen?
Conrads Werk ist und bleibt ein Rätsel, ein Spiel mit Illusionen und Mehrdeutigkeiten. Seine Romane hinterlassen uns mit mehr Fragen als Antworten. Und vielleicht ist es gerade diese Offenheit, die seine anhaltende Faszination ausmacht. Die Reise, die mit der Lektüre seiner Bücher beginnt, endet nicht mit der letzten Seite. Sie setzt sich fort, in unseren Gedanken, in unseren Träumen, in unserer eigenen Auseinandersetzung mit den großen Fragen des Lebens.
Die Nacht ist hereingebrochen. Draußen leuchten die Schiffe auf der Elbe, im Inneren des Hafenlokals brennen noch immer die Lichter. War Lord Jim wirklich hier, oder haben wir nur geträumt? Die Antwort auf diese Frage bleibt im Dunkeln, verborgen im Schatten der Vergangenheit.
Joseph Conrad
Lord Jim
Roman (1927). E-Book. Erste Auflage 2020.
Erschienen am 12. Mai 2020