Paris, 14. Juni 1940. Die Stille war fast greifbar. Die sonst so pulsierende Metropole, die Stadt der Lichter, der Kunst und der Lebensfreude, lag wie erstarrt unter einem Schleier aus Ungewissheit und Angst. Die Horden deutscher Soldaten marschierten in die Stadt, ein Triumphzug der Dunkelheit, der die Herzen derjenigen, die zurückgeblieben waren, mit Eis erfüllte. Die Straßen, einst belebt vom geschäftigen Treiben der Pariser, waren nun leer, die Häuser verriegelt, die Fenster verhängt, als schämten sie sich der Kapitulation ihrer Bewohner. Der Geruch von Niederlage und Verzweiflung hing in der Luft, vermischt mit dem beißenden Rauch der brennenden Vorstädte.
In einem dieser verlassenen Häuser, in einem schmucklosen Hotelzimmer, saß Ernst Weiß. Der einst gefeierte Schriftsteller, der Arzt, der Humanist, war nun nur noch ein Schatten seiner selbst. Seine Freunde, seine Weggefährten, waren längst geflohen, dem Sog des Krieges und der Verfolgung entkommen, während er zurückblieb, gefangen in einem Netz aus Angst und Resignation.
Sein Zimmer war ein Spiegelbild seines inneren Zustands: trist, kahl, ohne jeglichen Hauch von Schönheit oder Hoffnung. Die Wände zierten grellbunte Tapeten, deren Farben wie ein Schrei nach Aufmerksamkeit wirkten, ein stummer Protest gegen die graue Trostlosigkeit, die ihn umgab. Das einzige Fenster bot keinen Blick auf die Straße, keine Verbindung zur Außenwelt, sondern öffnete sich zu einem trostlosen Innenhof, einem tiefen Schacht, der das wenige Licht, das eindrang, verschluckte.
Hier, in diesem Gefängnis aus Stille und Schatten, haderte Weiß mit seinem Schicksal. In seinen Gedanken hallten die Schreie der Vergangenheit wider, die Erinnerungen an ein Leben, das nun unwiederbringlich verloren war: die glücklichen Tage in Wien, die intellektuellen Dispute in den Cafés von Berlin, die Freundschaft mit Kafka, Brod, Werfel – all das war nun zu einer fernen, unwirklichen Erinnerung verblasst.
Die Realität war diese: Er, der Jude, der Schriftsteller, der Kritiker des Nationalsozialismus, war nun allein, ausgeliefert der Gnade eines Regimes, das ihn und seinesgleichen vernichten wollte. Die Flucht, die Rettung, war ihm verwehrt, die Kraft, sich dem Strom der Flüchtlinge anzuschließen, war ihm abhandengekommen.
In den letzten Tagen hatte er versucht, sich mit der unausweichlichen Katastrophe abzufinden. Er hatte seinen letzten Roman, „Der Augenzeuge“, vollendet, ein Werk, das von der Begegnung mit einem jungen, fanatischen Soldaten im Ersten Weltkrieg handelte, einem Mann, der später zu einem der größten Diktatoren der Geschichte aufsteigen sollte – ein Buch, das eine erschreckende Parallele zu seiner eigenen Situation aufwies.
Aber selbst die Literatur, seine einstige Zuflucht, bot ihm keinen Trost mehr. Die Verlage, die einst um seine Manuskripte buhlten, waren nun geschlossen, die Zeitungen, für die er schrieb, verboten, seine Stimme zum Schweigen gebracht.
Die Stille in seinem Zimmer war nun allgegenwärtig, bedrohlich, erdrückend. Sie war die Stille des Todes, die Stille des Untergangs, die Stille einer Welt, die sich in den Abgrund stürzte.
Am Morgen des 14. Juni erreichte ihn die Nachricht, die er insgeheim befürchtet hatte: Deutsche Truppen waren in Paris eingedrungen. Der Feind stand nun vor der Tür, bereit, ihn zu verschlingen.
In diesem Moment der Verzweiflung traf Weiß seine Entscheidung. Er öffnete eine Schublade, holte eine Schachtel mit Tabletten hervor und schluckte sie hinunter. Dann taumelte er ins Badezimmer, drehte den Wasserhahn der Badewanne auf und setzte sich hinein. Mit einem Rasiermesser schnitt er sich die Pulsadern auf und wartete auf das Ende.
So fand ihn seine Freundin, als sie Stunden später sein Zimmer betrat. Der Anblick des blutleeren Körpers in der blutroten Wanne war ein Schock, ein Schlag ins Gesicht, ein brutaler Beweis für die Grausamkeit der Zeit, die sie erlebten.
Ernst Weiß wurde in einem Massengrab begraben, namenlos, vergessen, ein Opfer der Barbarei, die Europa überrollt hatte.
Seine Geschichte ist ein Mahnmal, eine Erinnerung an die unzähligen Menschen, die im Schatten des Nationalsozialismus ihr Leben verloren. Sie ist ein Aufruf zum Widerstand gegen jede Form von Intoleranz und Unterdrückung, ein Plädoyer für Menschlichkeit und Freiheit.
Und sie ist eine eindringliche Warnung vor der Stille, die den Untergang ankündigt.
Die Geschichte von Ernst Weiß und die Entstehung seines Romans »Ich, der Augenzeuge« sind eng mit den dunkelsten Kapiteln der europäischen Geschichte verbunden. Der Roman ist ein erschütterndes Zeugnis der Schrecken des Krieges, der Verfolgung und des Totalitarismus. Er ist aber auch ein Dokument des menschlichen Willens zum Widerstand und der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Der Audio-Digest mit Alana & Ben
Neuerscheinung
Ernst Weiß
Ich, der Augenzeuge
Roman. E-Book. Erste Auflage 2025.
Erschienen am 14. Januar 2025